Wachsendes Stadt-Land-Gefälle: Steht Deutschland vor einer neuen Spaltung?

Auch Hessens Dörfer und ländliche Gemeinden teilen das Schicksal vieler Landstriche in Deutschland, die seit Jahrzehnten ihre jungen Akademiker an die in der Region liegenden Groß- und Mittelstädte verlieren. Das Tragische daran ist, dass die Meisten dieser gutausgebildeten jungen Menschen nicht damit planen, jemals wieder aufs Land zurückzuziehen. Die Kommunen müssen hilflos dabei zusehen, wie ihr Potential abwandert und können der Massenbewegung mangels finanzieller Mittel und attraktiver Arbeitgeber wenig bis gar nichts entgegensetzen.

Verständlich ist es jedoch, dass viele Exil-Dörfler nicht wieder von der Landlust gepackt werden. Es fehlt auf dem Land nicht nur an örtlicher Infrastruktur, schnellem Internet und ausreichender ärztlicher Versorgung, sondern vor allem auch an sozialen Treffpunkten und kulturellem Angebot. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen ohne Führerschein oder eigenes Auto regelrecht festsitzen und somit nicht einmal auf die bestehenden Optionen in der nächstgelegenen Kleinstadt zurückgreifen können. Doch logisch ist auch, dass keine neuen Kitas, Schulen oder Gemeindezentren eröffnet werden können, wenn der dafür benötigte Nachwuchs schlichtweg fehlt, weil es die jungen Familien auch aus bildungs- und freizeittechnischen Gründen immer öfter in Richtung der großen Metropolen zieht. So entsteht schnell eine Negativspirale, die den Verwaltungen der jeweiligen Dörfer und Gemeinden jegliche Anspruchsgrundlage für dringend benötigte Investitionen entzieht.

Wird das Leben auf dem Land für junge Menschen und Akademiker aber nicht so bald wie möglich wieder attraktiver gestaltet, drohen einige Regionen regelrecht entvölkert zu werden. Es gilt also wieder Anschluss an die benachbarten Ballungszentren zu finden, um im Wettbewerb der Regionen nicht komplett abgehängt zu werden. Um eine solche Umbruchphase einzuleiten, müssen die Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Ortschaften zwangsläufig miteingebunden werden. Sie kennen die Stärken und Schwächen ihrer Heimat am besten und können einen wertvollen Beitrag für realistische und nachhaltige Entwicklungskonzepte leisten. Denn Fakt ist auch: Viele Exil-Dörfler oder Städter sind noch nicht ganz verloren und können mit den richtigen Projekten wieder, oder zumindest temporär, begeistert und gewonnen werden! Denn nicht umsonst mieten sich viele Städter übers Wochenende ein ruhiges Airbnb auf dem Land oder leisten sich dauerhaft ein Ferienhaus. Landschafts – und erholungstechnisch stellt das entschleunigte ländliche Leben für viele immer noch Idealzustand dar, der momentan aus realistischen und wirtschaftlichen Gründen aber nicht gelebt werden kann und will.

Es gibt einen Landkreis in Hessen, zwischen Darmstadt und Heidelberg, der mit gutem Beispiel voranschreitet und wieder mehr sein will, als nur ein Windenergielieferant für die Städte. Im Odenwald erarbeiten Politik und Bevölkerung aktuell gemeinsam eine Kreisentwicklungsstrategie, die auf dem Stichwort „Glokalisierung“ basiert – der Verbindung von Lokalem und Globalem. Der Landstrich möchte seine Eigen- und Besonderheiten ausbauen, ohne dabei provinziell zu wirken oder zu klein zu denken. Ein Beispiel, für einen angedachten nachhaltigen Entwicklungsimpuls in Sachen Kultur ist beispielsweise die Errichtung temporäre Künstlerresidenzen in leerstehenden Gewerbeimmobilien, da Künstler es in Großstädten ja oft schwerhaben bezahlbare Wirkungsstätten zu finden. An diese Ideen und die dort herrschende Aufbruchsstimmung gilt es anzuknüpfen, um das Entvölkerungsrisiko wieder zu minimieren.

Wir müssen etwas unternehmen, bevor es uns so geht wie vielen Kommunen in Italien oder Spanien, wo Immobilien auf dem Land teilweise für den Spottpreis von einem Euro erhältlich sind oder bereits sogenannte Geisterdörfer und -städte existieren, die gänzlich verlassen sind. Die Politik muss verstehen, dass sofort wirksame Notfallstrategien erarbeitet werden müssen, um der ländlichen Bevölkerung wieder Hoffnung zu geben und zu alter Stärke zu verhelfen. Denn Fakt ist, ohne das „ländliche Leben“ und die damit verbundenen Jobs wie Landwirt, etc., kann auch das Stadtleben nicht sorgenfrei weiterlaufen.

Das bedeutet, dass vor allem Investitionen vom Bund geleistet werden müssen, um die Kommunen zu unterstützen und die ortsansässige Verwaltung wieder aufzustocken. Der Ausbau von schnellem Internet, neu Formen der Mobilität und der Erhalt bzw. der erneute Ausbau der örtlichen Infrastruktur müssen finanziell gefördert werden, bevor der Bedarf danach gänzlich versiegt. Außerdem sollte auf kommunaler wie auf Bundesebene über zusätzliche Anreize debattiert werden, die Städter und junge Akademiker ernsthaft in Erwägung ziehen lassen, einen Umzug aufs Land zu wagen. Denn diese trauen sich aufgrund existentieller Ängste und dem drohenden Verlust von geistiger Stimulierung nicht bis über die stadtnahen Landkreise oder die gut situierten Speckgürtel-Regionen hinaus.

Wachsendes Stadt-Land-Gefälle: Steht Deutschland vor einer neuen Spaltung?